In seiner ersten europäischen Einzelausstellung wird Ushio Shinohara, neben älteren Papiercollagen aus seiner Gengi-Serie und Leinwänden mit griechisch-mythologischen Motiven aktuelle Motorrad-Skulpturen und neue Arbeiten zu den Oirans (hochrangige japanische Curtisanen) zeigen. Inspiriert durch die extreme Darstellungen von Gewalt und Tod des letzten Großmeisters des japanischen Holzschnitts Tsukioka Yoshitoshi (1839- 1892), wird Shinohara in der Galerie oko seine Arbeiten „Blutiger Oiran Mord“ erstmals zeigen.
In der japanischen Kunstszene liebvoll auch „Gyu-chan“ genannt, ist Ushio Shinohara einer der bekanntesten Vertreter der japanischen Nachkriegsavantgarde. Geboren wurde er 1932 in Tokyo. Seine Mutter war eine Malerin japanischen Stils (Nihonga) und sein Vater ein Tanka-Poet. 1952 trat er in die Klasse der Ölmalerei an der namhaften Staatlichen Universität der Künste Tokyo ein. Zu dieser Zeit waren Einflüsse des europäischen Impressionismus in der akademischen Ausbildung der japanischen Künstler vorherrschend. Diesem Trend setzte sich Shinohara entgegen, weshalb er 1957, kurz vor dem Abschluss, seine Ausbildungsstätte verließ.
Sein Konflikt mit dem Kunst-Establishment begann aber schon drei Jahre früher, als er sich, nach der Lektüre des Buches „Die Kunst von Heute“ (Today’s Art) von Taro Okamoto (1911‑1996) entschieden hatte, den „Weg der Avantgarde“ einzuschlagen: Die Kunst sollte einer Explosion gleichen und sich gegen die konventionellen Schönheitsideale der Eleganz und Subtilität Stellung beziehen. Aus diesem Impetus heraus begann er 1958 als erster in Japan einen Irokesenhaarschnitt zu tragen, was in der damaligen Gesellschaft heftige Reaktionen hervorrief.
Von 1955 bis 1963 nahm Shinohara an der legendären „Yomiuri Independent Exhibition“ im Tokyo Metropolitan Art Museum teil. Es war ein offenes und Jury-freies Forum junger Künstler, das von der Yomiuri Tageszeitung gefördert wurde. 1960 gründete er zusammen mit Genpei Akasegawa, Shusaku Arakawa und Masanobu Yoshimura die „Neo-Dadaism Organizers“. Diese Neo-Dadaisten arbeiteten gerne mit gewöhnlichem Trödel, Erzeugnissen der Massenmedien, kurz, mit dem symbolträchtigen Ausstoß der modernen Gesellschaft. Eine schwere finanzielle Situation verleitete Shinohara aus einfachsten Materialien, wie Bambusstreifen, gefundenen Drähten, leeren Büchsen, Pflaster und alten Klamotten Kunst zu schaffen. Die „Neo-Dadaism Organizers“ existierten zwar nur sechs Monate lang, aber sie erregten große Aufmerksamkeit in Japan.
Seinen Ruf als l’enfant terrible des Kunstbetriebs etablierte Shinohara endgültig 1961. Es handelte sich dabei um einen Artikel im illustrierten Wochenmagazin Mainichi Graph. Ein junger japanischer Schriftsteller, Kenzaburo Oe, der 1994 den Nobelpreis für Literatur bekommen sollte, stattete dem Künstler einen Besuch ab. Nun pflegte aber Shinohara nach jeder Ausstellung alle seine Arbeiten wegzuwerfen, sodass er nichts bei sich hatte, was er Oe hätte zeigen können. Also befestigte der Künstler Papier an einer Wand, wickelte seine Hände in ein zerrissenes Hemd und tauchte diese in Tusche ein. Dann schlug er mehrmals mit den Fäusten gegen die Papierbögen. Es war die Geburtsstunde des „Boxing Painting“, einer nie da gewesenen Mischung aus Kunst und Sport, einer extremen Form des Action Painting. Im selben Jahr wurde Shinohara beim Boxing Painting vom Fotografen William Klein verewigt. Auch heute noch führt Shinohara Boxing Painting an vielen Orten und in vielen Museen auf der ganzen Welt vor – er benützt dafür Boxhandschuhe und Acrylfarben.
Einflüsse der Popkultur gehen auf die Überflutung mit US-amerikanischer Kulturproduktion – Hollywoodfilme, Comics, Musicals – zurück, die Japan während der Besatzungszeit (1945 – 1952) erfahren hat. So machte Ushio Shinohara, 1966, abermals Geschichte, als er unter der Bezeichnung „imitation art“ eine Kopie von Robert Rauschenbergs „Coca-Cola Plan“ ausstellte und damit der Reproduzierbarkeit der Kunst eine neue Dimension verlieh.
Eine weitere Inspirationsquelle fand Shinohara in der traditionellen japanischen Kunst: stark beeindruckt vom Ukiyo-e-Großmeister Tsukioka Yoshitoshi begann er eine Serie von „flat paintings“ mit Motiven über die Oiran (höchste Klasse der japanischen Curtisanen), die 1966 in der renommierten Tokyo Gallery gezeigt wurde.
Mit einem Stipendium der J. D. Rockefeller 3rd Stiftung kam Ushio Shinohara 1969 nach New York, wo er bis heute noch lebt und in seinem Atelier in Coney Island arbeitet. New Yorker Szenen, insbesondere die Canal Street in Downtown, sowie Alltagsgegenstände, die gelben amerikanischen Taxis, Jelly Beans und Erdbeer-Eis haben ihn stark inspiriert. In der „Genji-Serie“ kommt es zur Verschmelzung von japanischen Motiven aus der ruhigen Heian-Zeit (794 – 1185 bzw. 1192 n. Chr.) mit dem wirbelnden New Yorker Stadtleben.
Aus den siebziger Jahren stammen Shinoharas berühmt gewordene Motorrad-Skulpturen aus gebrauchten Kartons, Polyester-Harz und Farbe. Jedes von diesen „Gefährten“ hat seinen Reiter: es sind amerikanische und japanische Comic-Figuren wie Superman und Pokemons, riesige Insekten, nackte Göttinen, Zentauren, Geishas. Ebenso wenig fehlen hier historische Gestalten wie etwa der heilige Mönch-Kalligraf Kukai und Van Gogh. Diese, zumeist überdimensionalen und wie aus vulkanischer Lava gegossenen Zweiräder strahlen die Erotik der amerikanischen Maschinenkultur aus.
Auch die griechische Mythologie, besonders die in ihr präsente Verbindung vom schöpferischen und sexuellen Eros, vom Dionysischen und Apollinischen, übte einen starken Einfluss auf Shinohara aus.
Ushio Shinoharas Arbeitsmotto lautet: „Schnelligkeit, Schönheit und Rhythmus“. Doch seine künstlerische Reflexion des modernen urbanen Lebens lässt ihn nicht die alten Meister vergessen: Tintoretto, Rubens, Van Gogh – er liebt sie alle, besonders aber Van Gogh. Seine Leidenschaft drückt sich in dem romantischen Drang aus, eine Kunst zu schaffen, welche die Zeit transzendiert.
Die Einzelausstellung von Shinohara 1982 in der Japan Society Gallery in New York bestätigte sein Renomée in der internationalen Künstlerszene der amerikanischen Metropole. Alexandra Munroe, die damals die Ausstellung mitorganisierte, später die Galerie leitete und heute als Chefkuratorin für asiatische Kunst am Salomon R. Guggenheim Museum in New York tätig ist, schreibt 2007 in einem Artikel über Shinohara.
„Ushio Shinohara malt filmische Realität. Er malt Tableaus von dem was er sieht – düstere Strassen von East Village, grelle Strandbars in Coney Islands, Manhattans U-Bahn-Stationen mit den Bubblicious Werbungen - er komprimiert eine Vielzahl von Ansichten auf einer einzigen Leinwand oder in einer junk-art-Skulptur. Bewegung, Bilder und Aktionen erscheinen alle gleichzeitig, wie in einem Film, dessen Szenen auf ein einziges Fotogramm versetzt wurden. In diesem visuellen Chaos werden Shinoharas multiple Erzählungen erkennbar, gar einleuchtend, Szenen des Lebens. Sein Objekt ist unsere Realität, gesättigt und gesteigert, reif um zu verschlingen. […] Es stellt sich heraus, dass Shinohara nicht nur die Nachkriegsavantgarde in Tokyo historisch stimuliert hat: er ist eine Inspiration und ein Mentor für mich gewesen und mit der Zeit auch für viele weitere junge Studenten, die die Größe seines Genies und seiner kulturellen Bedeutung erkannt haben.“
Shinohara hatte zahlreiche Einzelausstellungen in renommierten Galerien und Institutionen: u.a. Tokyo Gallery und Gallery Yamaguchi in Toyko, Japan Society Gallery in New York, Hiroshima City Museum of Contemporary Art, Hara Museum ARC, Museum of Modern Art von Kamakura & Hayama. Dazu kommen unzählige Gruppenausstellungen: u.a. Centre Georges Pompidou in Paris, The National Museum of Modern Art und The National Art Center in Tokyo, The National Museum of Art in Osaka, MAK - Museum für Angewandte/Zeitgenössische Kunst in Wien, Barcelona Modern Art Museum, Musée d’art Contemporain in Lyon, Leo Castelli Gallery in New York. Ebenfalls hat er Boxing Painting an zahlreichen Museen vorgeführt: u.a. The National Museum of Art in Osaka, The Museum of Contemporary Art in Tokyo, MAK- Museum für Angewandte/Zeitgenössische Kunst in Wien, J. Paul Getty Museum in Los Angeles. Schließlich sind seine Arbeiten in zahlreiche öffentlichen Sammlungen vertreten: u.a. MOMA in New York, Nationalgalerie in Prag, Museum of Contemporary Art und Hara Museum of Contemporary Art in Tokyo, The National Museum of Art in Osaka, Toyota Municipal Museum, Hiroshima City Museum of Contemporary Art. Dazu hat er auch vier Bücher publiziert und 2007 den bedeutenden Mainichi Newspaper Art Preis bekommen.
Marcello Farabegoli (Berlin 2008)